REUTLINGEN. Was für eine Tradition! Um das Jahr 742 wurde der Chor der Singknaben der St. Ursenkathedrale Solothurn gegründet. Mit dieser über 1 200-jährigen Geschichte sind die Singknaben einer der ältesten Chöre überhaupt und ein Schweizer Qualitätsprodukt der feinsten Art. Reutlingen ist die letzte Station ihrer Tournee durch Süddeutschland gewesen. In der Marienkirche haben sie sich mit ihrem Leiter Andreas Reize, der früher selbst ein Singknabe gewesen ist, auf eine begeisternd frische und hochmusikalische Weise in die Herzen eines großen Publikums gesungen
Reutlinger General-Anzeiger, Dienstag, 5. Oktober 2009
Sie können alles. Einem modernen Kyrie von Radulescu, das sie schlank, beweglich, ausdrucksstark singen, lassen sie aus dem Stand ein Gloria aus einer Messe Monteverdis folgen, das sie beweglich, kontrastreich, stilistisch immer auf der Ideallinie und dabei klar und natürlich vortragen. Bruckners Graduale »Os justi« wird bei ihnen zu einem einzigen Leuchten zart und rein, voll und durchsichtig.
Im großen Block mit Werken von Heinrich Schütz, bei denen sie Angelika Hirsch am Positiv begleitet, demonstrieren sie mit Energie und Stimmkultur und großer Sicherheit, auch in den wechselnden Metren, die Eindringlichkeit und den musikalischen Wortschatz einer prägnant vorgetragenen »Rede«. Im Deutschen Magnificat von Schütz heben sie den Glanz dieser doppelchörigen Motette leicht und strahlend und in fließenden Wechseln in den Raum hinein. Andreas Reize ist hierbei ein präziser und inspirierender Klangformer. Samuel Barbers Agnus Dei für acht Stimmen, das vielen auch als Adagio für Streicher bekannt sein dürfte, füllen die Singknaben mit sanftem melodischem Fluss und einer berührenden Wärme des Ausdrucks.
Beim weltlichen Teil ihres Programms hört man und sieht es den jungen Schweizern auch an, wie die Anspannung des geistlichen Exercitiums und der gesamten Tournee allmählich weicht. Jetzt singen sie fröhlich und mit Schwung und Witz. Stimmen auch mal ein Volkslied aus ihrer Heimat an oder singen ein anderes Mal vergnügt durch die Nase und bringen mit »Funiculi-Funicula« jetzt singt auch Andreas Reize mit südliches Temperament ins Kirchenschiff. Mit der Geschichte vom Sidi Abdel Assar von El Hamma« hatte der Männerchor der Singknaben die Lacher auf seiner Seite. Er erzählt diese Geschichte vom schwierigen Brautkauf in einem hinreißend trockenen Schwyz-Arabisch. Ein Riesenspaß.
Zweimal mischte sich der hiesige Knabenchor Capella vocalis unter die Singknaben der Ursenkathedrale. Dann erlebte man einen klangvoll großen, strahlend singenden Chor, den zu leiten und dessen dynamisches Potenzial auszuschöpfen für Andreas Reize und später auch für Eckhard Weyand Sternminuten »a cappella« gewesen sein müssen.
Kräftiger und langer Beifall für alle, auch für die vier Schweizer Buben, die mit ihren glatten, schönen Stimmen ein bezauberndes und wohlgestimmtes Kleeblatt des Gesangs waren.