Stephan Thomas Solothurner Zeitung / MLZ 2011-08-12
Singen Sie vielleicht in einem Chor, und wenn ja, hatten Sie jemals einen Auftritt im Freien? Dann wissen Sie, wie anstrengend es ist, wenn sich die Töne in der Weite verlieren. Deswegen setzt man bei Freilichtopern heute meist auf elektronische Verstärkung, denn das Musiktheater ist ja für geschlossene Räume gedacht. Dafür nimmt man oft massive Nachteile in Kauf; so kann die Orientierung erschwert sein, weil die Töne nicht von den Sängern her, sondern aus den Boxen kommen. Nicht so bei der Oper auf Schloss Waldegg. Hier hat man von jeher den Mut, die Soli unverstärkt singen zu lassen. Meist agieren sie zudem fast ebenerdig hinter dem Orchester, was die Gefahr des Zugedecktwerdens noch erhöht.
Trotz dieser schwierigen Ausgangslage funktioniert das nicht nur, sondern macht Aufführungen unverwechselbar. Man möchte ihren Charakter paradoxerweise «kammermusikalisch» nennen. Die Nähe zum Publikum ergibt zudem eine Intimität, welche diese Abende zu etwas Unverwechselbarem macht. Dazu trägt auch der Einbezug des zauberhaften Ambientes am Schloss Waldegg, der Architektur wie der Gartenanlagen, ein Wesentliches bei. Spielt dann auch noch das Wetter mit, wie es bei der Premiere am Mittwochabend der Fall war, kommt man in den Genuss eines sommerlichen Gesamtkunstwerks aus Natur und Kunst.
Gespielt wurde die Oper «Zémire et Azor» von André Ernest Modeste Grétry, einem Komponisten des ausgehenden Ancien Régime und der Revolutionszeit. Die Thematik ist jene von «La belle et la bête», also «Die Schöne und das Biest». Durch die Liebe der jungen Kaufmannstochter Zémire wird der Edelmann Azor, der durch einen Zauber zu einem hässlichen Monster verwandelt ist, befreit. Damit bleiben Andreas Reize und sein Ensemble Cantus firmusbei wenig bekannten Opern aus dem 18. Jahrhundert. Dies hat zweierlei Vorteile: Zum einen gibt es für das Publikum etwas Neues zu entdecken, zum anderen darf man hier getrost auf ein Regietheater verzichten, an dem man in Opernhäusern für das bekannte Repertoire kaum noch vorbeikommt. Damit soll nicht gesagt sein, dass für Regisseur Georg Rootering nur Brosamen übrig blieben.
Die Bühne, die wie der Zuschauerbereich in diesem Jahr extrem in die Breite gezogen ist, birgt viele Herausforderungen und Möglichkeiten, mit denen Rootering virtuos spielt. Dass die Schauspieler, ja sogar Dirigent Andreas Reize, in historischen Kostümen stecken, möchte man gar nicht anders haben, so stimmig und homogen ist das Ganze. Intellektuell herausfordern lassen kann man sich auf dieser Ebene ein anderes mal wieder. Es ist indessen nicht so, dass uns die Oper inhaltlich nichts zu sagen hätte. Der Hauptgedanke, dass innere Werte und Gefühle schwerer wiegen können als Äusserlichkeiten, mag man durchaus heute noch beherzigen.
Nicht irremachen lassen darf man sich davon, dass Grétrys Musik im Vergleich etwa mit Werken Mozarts satztechnisch meist eher einfach gestrickt ist. Der Komponist verfügt über eine stattliche Palette von Ausdrucksnuancen und ein ausgewiesenes Flair für die Bühne. Auch weiss er den Soli wie dem Orchester auf den Leib zu schreiben. Davon profitierte am ersten Abend besonders Andrea Lauren Brown als Zémire, die sich mit Virtuosität und Ausdruck hervortat.
Die Rolle des Azor war mit dem kraftvoll-präsenten Michael Feyfar ebenfalls bestens besetzt – auch wenn man witzeln hörte, seine Präsenz als Ungeheuer sei attraktiver gewesen denn als befreiter Edelmann. Fürs Ernste war Dominik Wörner als Zémires Vater Sander, fürs Komische Jan Martin Mächler als Diener Ali zuständig; sie gefielen stimmlich wie die Schwestern Fatmé (Ursina Leuenberger) und Lisbé (Barbara Erni). Da auch das Orchester bestens disponiert war, blieben trotz tiefer Temperaturen keine Wünsche offen.